[1] den 8ten November 91.
Ich wollte Dir schon seit einigen Wochen alle Posttage schreiben; weil ich Dir manches zu schreiben hatte, und um den bisherigen regelmäßigen Gang unsrer Briefe zu unterbrechen; als ich bey meiner Zurückkunft von
Was es auch seyn mag, was Du unternimmst lieber Bruder – handle groß, und wenn es nicht gelingt, so bleibe fest stehen. Du wirst alsdenn eine glorreiche Gelegenheit haben, Gott zu verachten. Bey allem Reichthum, wenn wir nicht unsrer <eignen> Vollkommenheit selbst entsagen können, sind wir nur Diener Gottes. – Wenn Du unglücklich bist, so fürchte ich für Deine Seele. – Doch wenn Du nur willst! –
Meinen Wunsch betreffend aus eignem Antriebe zu Räthen mache. Da die Berlepsch dieß hört, sagt sie in Gesellschaft, [3] daß er es durch sie erhalten. Bout[erwek] geht entrüstet zu ihr, und ich weiß nicht ob er ihr den Rath zurückgegeben, oder sie ihn zurückgenommen hat. Jetzt ist er Herr Bout[erwek] vor wie nach. Die Berlepsch soll sich über dans le tragique; denn dans le comique hätte er sie schon gesehen (ihn sieht man immer dans le comique). Er hatte eine große Brille auf der Nase und sah die Deutschen unverwandt an. – Von Woltmann weiß ich nichts Specielles; einige <lange> Wehmuthslieder finden sich AlbrechtOpitzGefühls in Hamlet. Zuerst wird die Seele des Hörers ganz rege [5] gemacht durch das schaurige einer Geistererscheinung und die Schrecknisse der Hölle. – Hamlets Art über die Dinge zu denken scheint mir das Hauptziel des ganzen zu seyn; diese wird immer mehr entwikkelt durch mancherley Begebenheiten und hebende Contraste hindurch, bis die Wirkung, die diese Denkungsart, je deutlicher sie sich entfaltet, in dem Hörer hervorbringt, in der Scene wo die verwirrte Ophelia singt, in Verzweiflung des Gefühls und endlich in der Todtengräber-Scene in die höchste Verzweiflung des Verstandes übergeht, und nun ihren Gipfel erreicht hat. Die letzten Scenen in ihrem raschen Fortgange mit dem ritterlichen Zweykampf, dem allgemeinen Sterben, dem kriegerischen Aufzug über die Wahlstatt und dem feyerlichen Begräbniß, haben etwas starkes welches gleichsam den ganzen Verzweiflungsschwangern Eindruck tief und dauernd in das Herz schlägt. –
Werden Sie mich der Spitzfindigkeit beschuldigen, wenn ich auch die Albernheiten des Polonius bedeutend finde?“ etc. – Freilich ist dieß nur zu sehr Skizze; ich habe nur angedeutet daß ich die Denkungsart des Hamlet für den eigentlichen Mittelpunkt halte*; sie zu entwickeln und dem Gange des ganzen Stückes zu folgen <das> würde mich zu
[6] Nach einem Zwischenraum von einigen Tagen, den mancherley Geschäfte und Plane und ein heftiger Anfall von Mismuth verursacht haben, setze ich mich wieder nieder, um meine unterbrochene Unterhaltung zu vollenden. – Ich überdenke so eben was alles in meinem Kopfe vorging in dieser so kurzen Zeit, die zahllosen Gedanken, die mein Geist baute, allen Schmerz alle Freude, alles das was ich Dir nicht nennen kann. Die Menschheit ist etwas wunderbar Schönes etwas unendlich Reiches – und doch zerfrißt das Gefühl unsrer Armuth jeden Moment meines Lebens. Und dann giebt es Zeiten wo das Beste was ich mir zu denken vermag, meine Tugend, wenn sie auch auf den Augenblick erreichbar würde, mich anekelt. – So lebe ich denn immer fort – glaube aber nicht daß ich jeder Laune so diene wie in Gött[ingen], ganz so kränkliches Herzens bin. Du würdest den Weg billigen, den ich gehe; es ist ziemlich der, den Du mir zeigst – heilsame Thätigkeit. Zwar sind die Wege zum Glück ganz dunkel und – so geringfügig das scheint, ob eine Creatur wie ich glücklich ist – so ist doch kein endlicher Verstand fähig einzusehen ob mich dieß zum Glück oder zum Verderben führt. Doch <denke ich> würde vor der Hand ein Werk des Geistes recht gute Dienste thun; ob ich gleich wenn ich beten könnte, Gott nicht um Verstand sondern um Liebe bitten würde.
Erwarte nicht zu viel von meinem Zu[7]stande und überhaupt; über den gemeinen Pöbel der Sünder setze ich mich hoch weg; aber ich fühle es oft, recht viel bin ich nicht werth. Es gilt hier erst was Du von der Geringfügigkeit aller menschlichen Vortrefflichkeit sehr richtig bemerkst. – Ich wüßte mich auch nicht zu entsinnen daß ich etwas sehr gutes gethan hätte; wohl einiges schlechte und übrigens habe ich gedacht, und bin oft Seelenkrank gewesen. Ich darf mich <noch> kaum einen Mann nennen; was meinem Verstand betrifft so habe ich doch nicht selten die lächerlichsten Irrthümer begangen; ich betrüge mich sehr leicht selbst. Was ich aber eigentlich am meisten an mir zu tadeln habe, dafür finde ich keine Worte, es auszudrücken; es gehört mit dahin daß die seltsamsten Absprünge von der höchsten Höhe zur tiefsten Tiefe meinem Gefühl so gewöhnlich sind.
Dieses sind meine Gedanken über mich; misfallen sie Dir so denke an das herrliche Wort; zwischen uns sey Wahrheit.
Wenn ich
Auf den deutschen Character ist man noch nicht sehr aufmerksam. Seit einiger Zeit, däucht mich entdeckt zu haben, daß unser Volk einen sehr großen Character hat. So nenne ich den Inbegriff climatischer und geschlechtsmäßiger Vortrefflichkeiten; vollendet sehe ich ihn nur in einigen wenigen großen Männern, verzerrte Züge finde ich <fast> in allen Deutschen Char[akteren]. – Unter den Männern, die der öffentliche Ruf kennt, nenne ich Dir hier deutsch finde. Von obiger Art Menschen ist wohl unter allen Geschlechtern der Menschen nicht viel Gleiches zu finden, und sie haben <mehrere> Eigenschaften, wovon nie ein uns bekanntes Volk ein Ahndung gehabt hat.* – [9] Ein andermal mehr davon. – Du wunderst Dich vielleicht daß ich Klopstock oben nannte. Ich habe Frieden mit ihm geschlossen. – Es athmet aus seinen Schöpfungen und seinem Leben eine edle Männlichkeit, Kühnheit, Bestimmtheit, unerschütterliche Beharrlichkeit; er ist ein Mann und ein Mann ist ein so seltnes Wesen, daß ich jeden der es ist in dem Herzen meines Herzens trage, und alles an ihm dulde. Ueber
F. S.
Dieser zu verschiedenen Zeiten geschriebene Brief ist den 8ten November 91 abgeschickt.
Ich wiederhohle meine Bitte um baldige Aufklärung.
[5] * daher fällt die gewöhnliche Klage über Mangel an Handlung ganz weg; es ist
[9] * Ich sehe in allen besonders den wissenschaftlichen Thaten der Deutschen <nur> den Keim einer großen herannahenden Zeit und glaube daß unter unserm Volke Dinge geschehen werden, wie nie unter einem menschl.[ichen] Geschlecht. Rastlose Thätigkeit, tiefes Eindringen in das innere der Dinge, sehr viel Anlage zur Sittlichkeit und Freiheit finde ich in unserm Volke. Allenthalben aber sehe ich die Spuren des Werdens.
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