• Friedrich von Schlegel to August Wilhelm von Schlegel

  • Place of Dispatch: Leipzig · Place of Destination: Amsterdam · Date: [Ende Oktober 1791]
Edition Status: Single collated printed full text with registry labelling
    Metadata Concerning Header
  • Sender: Friedrich von Schlegel
  • Recipient: August Wilhelm von Schlegel
  • Place of Dispatch: Leipzig
  • Place of Destination: Amsterdam
  • Date: [Ende Oktober 1791]
  • Notations: Datum erschlossen.
    Printed Text
  • Bibliography: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Bd. 23. Dritte Abteilung: Briefe von und an Friedrich und Dorothea Schlegel. Bis zur Begründung der romantischen Schule (15. September 1788 ‒ 15. Juli 1797). Mit Einleitung und Kommentar hg. v. Ernst Behler u.a. Paderborn u.a. 1987, S. 27‒28.
  • Incipit: „[1] Hier hast Du ein angenehmes Zeugniß von dem Geiste unsres Bruders. In der Anlage des Ganzen findet sich zwar eine [...]“
    Manuscript
  • Provider: Dresden, Sächsische Landesbibliothek - Staats- und Universitätsbibliothek
  • OAI Id: DE-1a-34186
  • Classification Number: Mscr.Dresd.e.90,XIX,Bd.24.a,Nr.6
  • Number of Pages: 4S. auf Doppelbl. u. 1 S., hs. m. U.
  • Format: 19 x 11,7 cm; 9,5 x 11,7 cm
    Language
  • German
[1] Hier hast Du ein angenehmes Zeugniß von dem Geiste unsres Bruders. In der Anlage des Ganzen findet sich zwar eine gewisse Verworrenheit; es fehlt der Geist der seinen Stoff ganz frey und unumschränkt beherscht; aber im einzelnen ist mancher feine Gedanke. – Leider hat er eine sehr traurige Ansicht von unserm Zeitalter: ich sage leider; denn ich glaube es geht ihm wie vielen; was er <sein Urtheil über das> Zeitalter nennt, ist nur das Gefühl seiner Kräfte und seiner freilich unpoetischen Lage. – Ich war in Zerbst wenige Stunden sehr vergnügt mit ihm. Ich fand ihn heiter; ich weiß aber daß dieß nicht sehr von Dauer ist, und schwerlich werden wird wenn nicht eine gute Einnahme und eine gute Ehefrau ihm zu Theil wird. – Ich müßte mich sehr trügen oder er ist zu Zeiten sehr unglücklich; – wenn nicht etwan, um bei der innigsten Ueberzeugung, gar nichts helfen zu können, desto feiner gequält zu seyn, mich der Schein von Unglück <wieder> täuscht. – Ich bin allerdings sehr geneigt zur Ahndung verborgnen Elends. – Du könntest mich darin fast einen Propheten nennen – obwohl das Weissagen und Diviniren hier eben nicht schwer ist; denn in allen Dingen sind wir enge endliche Wesen nur in einem [2] machte uns Gott unendlich – in der Zerrüttung.
Mündlich hätte ich Dir wohl vieles über die Gegenstände von meines Bruders Brief und Schillers Recension zu sagen; denn ich habe seit ich Dich nicht sah, viel über die Dichtkunst nachgedacht. – Nur einige wenige Worte über den Maasstab zur Schätzung des Werthes der Dichter. Dieser Maasstab, denke ich, ist für die öffent[liche] Dichtkunst die Wirkung auf das Volk und also der Grad des Vergnügens und der Erhöhung zur Wirkung <für dieses>. Würde und Glück und die Mittel dazu lassen sich aber nicht etwan messen <und berechnen>. Ich sagte für die öffentliche; ich nehme auch eine geheime Dichtkunst an. Je inniger diese mit der Eigenthümlichkeit der wenigen, von denen und für die sie ward, verkettet ist; je mehr erfüllt sie ihre Bestimmung und je mehr ist sie vielleicht dem Volke ungenießbar. Man sieht diese Geheimniße zwar oft um einen Lobspruch verkaufen, aber ich für meinen Theil würde nie im Stande seyn, mein innerstes Ich, gleichsam als eine Natur-Seltenheit, die in einem Naturalien Cabinet verwahrt wird, den Liebhabern vorzuzeigen. – Wenn ich von der Wirkung auf das Volk ausgehe so würde ich wünschen der Dichter möchte ganz in das Intereße derer auf die er wirken [3] will, eindringen, alle ihre Verhältnisse erforschen. Darum muß der Dichter μεγαλοψυχος, großherzig seyn; denn was das Herz von Millionen ausfüllt, das muß in seinem Geiste Raum haben. Jeden <vielleicht unbedeutenden> Keim des Glücks und der Würde, der in der Eigenthümlichkeit und in den äußern Verhältnißen des Volkes liegt, entfaltet <er dann>: die Seele des Volks wird durch ihn geadelt. – Ueber irgend einen Mangel des Stoffs wird ein Dichter nicht klagen; denn wäre das Erdreich auch dürre Steppe wohin der Dichter mit seinem Zauberstabe schlägt, <da> springt der heilige Quell des Genußes und der Seelenwürde hervor. –
Daß Du noch an den alten Plan einer Geschichte der griechischen Dichtkunst denkst, freut mich; denn ich glaube die Art Geschichte wo es auf feine Wahrnehmung der Art eines fremden Wesens ankommt würde Dir sehr gut gelingen. Das vortreflichste unter dem was geschieht und ist, ist von der Art daß es leicht vor tausenden sicher unbemerkt ruhen kann, bis sich einer findet der es an das Licht reißt. – Das innere Leben eines fernen Volks ist wohl vorzüglich schwer zu ergreifen; der Geist wird hier durch so feine und verflochtne Dinge zu seinen Vermuthungen bestimmt; daß er sich keine deutliche Rechenschaft davon geben kann; deswegen finden keine Regeln statt, und durch Fleiß wird nichts ausgerichtet; dieses bleibt [4] dem Genie. –
Ich wünsche recht sehr bald Nachricht von Dir. Seit ich Deinen letzten Brief erhielt habe ich recht oft an Dich gedacht. Mit der rührendsten Freude habe ich es mir oft ausgebildet, wie ich Dich wiedersehen werde und wir von neuem zusammen leben werden. Dann fährt aber wohl einmal der stöhrende Gedanke dazwischen (Dir darf ich ihn sagen) – wie ich vielleicht bald auch hier Leere fühlen und von neuem in das Bewußtseyn der tiefsten Armuth herabgestoßen werden würde.
[5] Um das Studium der Reichsgeschichte mir etwas zu beleben, müssen mir die wenigen Werke von Verstand, die über Theile derselben vorhanden sind, dienen. Ich mache Dich auf Spittlers Geschichte von Würtemberg aufmerksam. – Darstellung des innern Lebens dieser Altväter und kernhaften Ritter, eine heitre lichtvolle Schreibart und politische Einsicht geben diesem Werke gültige Ansprüche auf den Namen eines vollendeten Meisterwerks. Für das vorzüglichste an demselben halte ich den feinen Sinn mit dem die Umstände, die zur Entwicklung und Bildung eines Charakters beytrugen, aufgefaßt sind. –
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[1] Hier hast Du ein angenehmes Zeugniß von dem Geiste unsres Bruders. In der Anlage des Ganzen findet sich zwar eine gewisse Verworrenheit; es fehlt der Geist der seinen Stoff ganz frey und unumschränkt beherscht; aber im einzelnen ist mancher feine Gedanke. – Leider hat er eine sehr traurige Ansicht von unserm Zeitalter: ich sage leider; denn ich glaube es geht ihm wie vielen; was er <sein Urtheil über das> Zeitalter nennt, ist nur das Gefühl seiner Kräfte und seiner freilich unpoetischen Lage. – Ich war in Zerbst wenige Stunden sehr vergnügt mit ihm. Ich fand ihn heiter; ich weiß aber daß dieß nicht sehr von Dauer ist, und schwerlich werden wird wenn nicht eine gute Einnahme und eine gute Ehefrau ihm zu Theil wird. – Ich müßte mich sehr trügen oder er ist zu Zeiten sehr unglücklich; – wenn nicht etwan, um bei der innigsten Ueberzeugung, gar nichts helfen zu können, desto feiner gequält zu seyn, mich der Schein von Unglück <wieder> täuscht. – Ich bin allerdings sehr geneigt zur Ahndung verborgnen Elends. – Du könntest mich darin fast einen Propheten nennen – obwohl das Weissagen und Diviniren hier eben nicht schwer ist; denn in allen Dingen sind wir enge endliche Wesen nur in einem [2] machte uns Gott unendlich – in der Zerrüttung.
Mündlich hätte ich Dir wohl vieles über die Gegenstände von meines Bruders Brief und Schillers Recension zu sagen; denn ich habe seit ich Dich nicht sah, viel über die Dichtkunst nachgedacht. – Nur einige wenige Worte über den Maasstab zur Schätzung des Werthes der Dichter. Dieser Maasstab, denke ich, ist für die öffent[liche] Dichtkunst die Wirkung auf das Volk und also der Grad des Vergnügens und der Erhöhung zur Wirkung <für dieses>. Würde und Glück und die Mittel dazu lassen sich aber nicht etwan messen <und berechnen>. Ich sagte für die öffentliche; ich nehme auch eine geheime Dichtkunst an. Je inniger diese mit der Eigenthümlichkeit der wenigen, von denen und für die sie ward, verkettet ist; je mehr erfüllt sie ihre Bestimmung und je mehr ist sie vielleicht dem Volke ungenießbar. Man sieht diese Geheimniße zwar oft um einen Lobspruch verkaufen, aber ich für meinen Theil würde nie im Stande seyn, mein innerstes Ich, gleichsam als eine Natur-Seltenheit, die in einem Naturalien Cabinet verwahrt wird, den Liebhabern vorzuzeigen. – Wenn ich von der Wirkung auf das Volk ausgehe so würde ich wünschen der Dichter möchte ganz in das Intereße derer auf die er wirken [3] will, eindringen, alle ihre Verhältnisse erforschen. Darum muß der Dichter μεγαλοψυχος, großherzig seyn; denn was das Herz von Millionen ausfüllt, das muß in seinem Geiste Raum haben. Jeden <vielleicht unbedeutenden> Keim des Glücks und der Würde, der in der Eigenthümlichkeit und in den äußern Verhältnißen des Volkes liegt, entfaltet <er dann>: die Seele des Volks wird durch ihn geadelt. – Ueber irgend einen Mangel des Stoffs wird ein Dichter nicht klagen; denn wäre das Erdreich auch dürre Steppe wohin der Dichter mit seinem Zauberstabe schlägt, <da> springt der heilige Quell des Genußes und der Seelenwürde hervor. –
Daß Du noch an den alten Plan einer Geschichte der griechischen Dichtkunst denkst, freut mich; denn ich glaube die Art Geschichte wo es auf feine Wahrnehmung der Art eines fremden Wesens ankommt würde Dir sehr gut gelingen. Das vortreflichste unter dem was geschieht und ist, ist von der Art daß es leicht vor tausenden sicher unbemerkt ruhen kann, bis sich einer findet der es an das Licht reißt. – Das innere Leben eines fernen Volks ist wohl vorzüglich schwer zu ergreifen; der Geist wird hier durch so feine und verflochtne Dinge zu seinen Vermuthungen bestimmt; daß er sich keine deutliche Rechenschaft davon geben kann; deswegen finden keine Regeln statt, und durch Fleiß wird nichts ausgerichtet; dieses bleibt [4] dem Genie. –
Ich wünsche recht sehr bald Nachricht von Dir. Seit ich Deinen letzten Brief erhielt habe ich recht oft an Dich gedacht. Mit der rührendsten Freude habe ich es mir oft ausgebildet, wie ich Dich wiedersehen werde und wir von neuem zusammen leben werden. Dann fährt aber wohl einmal der stöhrende Gedanke dazwischen (Dir darf ich ihn sagen) – wie ich vielleicht bald auch hier Leere fühlen und von neuem in das Bewußtseyn der tiefsten Armuth herabgestoßen werden würde.
[5] Um das Studium der Reichsgeschichte mir etwas zu beleben, müssen mir die wenigen Werke von Verstand, die über Theile derselben vorhanden sind, dienen. Ich mache Dich auf Spittlers Geschichte von Würtemberg aufmerksam. – Darstellung des innern Lebens dieser Altväter und kernhaften Ritter, eine heitre lichtvolle Schreibart und politische Einsicht geben diesem Werke gültige Ansprüche auf den Namen eines vollendeten Meisterwerks. Für das vorzüglichste an demselben halte ich den feinen Sinn mit dem die Umstände, die zur Entwicklung und Bildung eines Charakters beytrugen, aufgefaßt sind. –
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